In vielen Kulturen der Welt gibt es fürsorgliche Bräuche für die werdende Mutter und das werdende Kind. In unserer Vorstellung ist Schwangerschaft, Geburt und die erste Zeit mit dem Neugeborenen assoziiert mit (Mutter-)Glück und liebevoller Zuwendung und Unterstützung durch den Partner.

Für viele von uns ist unvorstellbar, dass Frauen in dieser Zeit einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind von ihrem Partner beschimpft, beleidigt, entwertet, gedemütigt, bedroht, terrorisiert, kontrolliert, isoliert, (weg-)gestossen, gekickt, geboxt, an den Haaren gerissen, geohrfeigt, geschlagen, gewürgt, sexuell belästigt, vergewaltigt, sexuell genötigt, getötet, … zu werden.

In der Schweiz ist jede fünfte erwachsene Frau von Partnerschaftsgewalt betroffen, rund die Hälfte davon sind Mütter. Die Mehrheit der gewaltbetroffenen Frauen ist 25 bis 45 Jahre alt, also im gebärfähigen Alter. Gewalt innerhalb der Partnerschaft ist immer noch ein Tabuthema und die Dunkelziffer ist hoch – ganz besonders während der Schwangerschaft und nach der Geburt.

Schwangerschaft, Geburt und die erste Zeit mit dem Neugeborenen sind vulnerable Lebensabschnitte, welche eine Lebenskrise auslösen können. Die Paarbeziehung verändert sich, aus dem Paar werden Eltern, es kommt zu einer Neudefinition von Nähe und Distanz. Schwangerschaft und Geburt können mit einem Verlust an Selbständigkeit, Aussenkontakten, Freizeit einhergehen, häufig entstehen neue (finanzielle) Abhängigkeiten, das Paar muss sich auf ein neues Gleichgewicht einstellen.

Diese existenziellen Umwälzungen und die damit einhergehenden Verunsicherungen und Belastungen können den Ausbruch von Partnerschaftsgewalt begünstigen.

Häusliche Gewalt hat viel mit Macht und Kontrolle zu tun. Während der Schwangerschaft und nach der Geburt können sich Macht und Kontrolle innerhalb der Paarbeziehung verschieben. Der Mann kann einen Kontrollverlust erleben, da er die Veränderungen, welche mit einer Schwangerschaft einhergehen, nicht kontrollieren kann. Die Frau wird einerseits verletzlicher, bedürftiger, andererseits wird sie durch eine Schwangerschaft gestärkt und aufgewertet, sie erlebt etwas, wovon ihr Mann weitgehend ausgeschlossen ist, sie ist bemächtigt ein Kind zu gebären, die Zuwendung zum Kind kann vom Mann als narzisstische Kränkung erlebt werden.

Gewaltbeziehungen sind häufig geprägt von hoher Ambivalenz. In Gewaltbeziehungen wird nicht von morgens bis nachts gestritten, geschrien und geschlagen. Auch in Gewaltbeziehungen kann es friedlich und harmonisch zugehen, es gibt Alltag, es gibt immer wieder gemeinsame Zeit, Vertrautheit. Doch die Stimmung kann jederzeit umschlagen, aus nichtigem Grund Streit entstehen, die Situation eskalieren.

In Gewaltbeziehungen ist das eigene zu Hause nicht länger ein Ort der Sicherheit, des Vertrauens, der Geborgenheit und Erholung mit einem unterstützenden Partner. Die Atmosphäre ist zunehmend geprägt von Angst, Bedrohung, Unsicherheit und dem unberechenbaren Verhalten des Partners, was zu hohem psychosozialem Stress führt.

Die Folgen der Partnerschaftsgewalt sind für die Frau und das Kind vielfältig und schwerwiegend. Häufig richtet der Mann die physische Gewalt während der Schwangerschaft gezielt gegen den Bauch. Der hohe psychosoziale Stress ist sowohl für die Frau als auch für das (ungeborene) Kind ein grosses Risiko. Die vermehrte Cortisolausschüttung kann zu vorzeitiger Wehentätigkeit und damit zu einer Frühgeburt führen; die Plazenta wird schlechter durchblutet, das Kind wird nicht mehr gleich gut versorgt; wächst nicht mehr gleich; das Cortisol wirkt auf den Zuckerstoffwechsel und kann zu Schwangerschaftsdiabetes führen,…

Gewaltbetroffene Frauen haben häufig schwierigere Geburtsverläufe (Kaiserschnitt), das Kind kommt schon gestresst zur Welt, ist ev. ein Schreibaby, es kann zu Schwierigkeiten beim Stillen kommen, Versagensgefühle der Mutter, Überforderung, fehlende soziale Unterstützung (durch den Partner), führen zu immer höheren Stress, das Risiko für Wochenbettdepressionen, Angst- und Zwangsstörungen steigt, der Bindungsaufbau zum Kind ist erschwert.

Die betroffenen Frauen schämen sich für die erlittene Gewalt und fühlen sich mitschuldig. Scham-, Schuldgefühle, Angst und Misstrauen sind Gründe, weshalb es vielen betroffene Frauen schwer fällt, sich Aussenstehenden anzuvertrauen und Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Es ist eine grosse Chance, dass die meisten Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt vorgeburtliche Untersuchungen in Anspruch nehmen und dadurch vermehrt Kontakt zu ÄrztInnen, Hebammen, Pflegefachpersonen, Gesundheitseinrichtungen und Beratungsstellen haben. Um möglichst frühzeitig zu erkennen, ob eine Frau von Partnerschaftsgewalt betroffen ist, ist es wichtig, Häusliche Gewalt routinemässig und proaktiv zu thematisieren, anzusprechen.

Wenn Fachpersonen Symptome und Verhaltensweisen betroffener Frauen im Kontext von häuslicher Gewalt erkennen und über Kenntnisse spezifischer Interventionsmöglichkeiten und Unterstützungs-angebote verfügen, können betroffene Frauen bedürfnisgerecht beraten und begleitet und ihnen Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, wie sie sich und ihr Kind/ihre Kinder schützen und sich allenfalls aus der Gewaltbeziehung befreien können.

Es ist wichtig, die Entscheidungen der Frau zu respektieren und die Dynamik der Ambivalenz in Gewaltbeziehungen zu kennen. Eine Frau braucht im Durchschnitt fünf Anläufe um sich endgültig aus einer Gewaltbeziehung befreien zu können …

Die Beratungsstelle  für Familienplanung, Schwangerschaft und Sexualität bietet niederschwellige und auf Wunsch auch anonyme Beratung für Frauen während der Schwangerschaft und im ersten Jahr nach der Geburt an. Das breite Spektrum an Beratungsthemen (Sexualität, Verhütung, Geburt, Beziehungsfragen, Erschöpfungszustände, beruflicher Wiedereinstieg, finanzielle Probleme) und Unterstützungsangeboten (psychosoziale, arbeits- und zivilrechtliche Beratung, Vermittlung von finanzieller Hilfe) ermöglicht oft einen umfassenden Einblick in die Lebensrealitäten von Frauen. Im Falle von Partnerschaftsgewalt können der betroffenen Frau Handlungs- und Schutzmöglichkeiten aufgezeigt und Hilfsangebote wie spezifische Opferhilfeberatungsstellen oder das Frauenhaus vermittelt werden.

(Marlys Spreyermann, Regionalstelle Rapperswil-Jona, Januar 2021)